Die politische Theorie Hannah Arendts
Inhalt
1. Einleitung 2. Expansion als ökonomisches Erfordernis und politische Bedingung... 2. 1. Die große Krise - ökonomische Notwendigkeit von Expansion 2. 2. Expansion als bestimmendes Prinzip des imperialistischem Zeitalters 2. 3. Politische Emanzipation der Bourgeoisie 2. 4. Das Bündnis zwischen überflüssigem Kapital und überflüssiger Arbeitskraft 3. Zusammenfassung
Das imperialistische Zeitalter wirkte, obwohl es nach allgemeiner Auffassung der Historiker das 19. Jahrhundert beschloss, auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts sehr stark prägend, und seine Auswirkungen auf das Weltgeschehen sind noch an dessen Ende zu spüren. Im folgenden möchte ich mich anhand des Textes "Die politische Emanzipation der Bourgeoisie" aus Hannah Arendts Band "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" mit dem Problem auseinandersetzen, ob die bourgeoise Wirtschaft im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts mit ihrem Bemühen um die Erweiterung ihrer ökonomischen Basis den für dieses Erweiterung längst zu eng gewordenen Rahmen des Nationalstaates lediglich konserviert hat, ohne neue gesellschaftliche und soziale Grundlagen für ihre Funktion zu schaffen? Bei der Untersuchung dieses Anachronismus möchte ich mich ausdrücklich auf den Bereich der europäischen Nationalstaaten konzentrieren, denn die anderen Teile der aufblühenden Welt, beispielsweise der USA, gingen bei ihrer Entwicklung von differierenden gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen aus. Die folgenden Überlegungen erheben auch keineswegs den Anspruch, eine umfassende Interpretation der angerissenen Problemstellung zu bieten, sondern beziehen sich ausdrücklich auf meine Auseinandersetzung mit dem oben erwähnten Text von Hannah Arendt.
2. Expansion als ökonomisches Erfordernis und politische Bedingung des Fortbestandes des europäischen Staatensystems im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
Als Zeitalter des Imperialismus wird im Speziellen der geschichtliche Abschnitt von den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts bis zum I. Weltkrieg verstanden, welches durch eine enorme technologische und ökonomische Entwicklung gekennzeichnet wurde, die ihren Ausdruck in einem sich ständig vergrößernden Reservoir technischer Neuentwicklungen und einer Konzentration der wirtschaftlichen Potenzen in Konzernen bzw. Trusts fand. Das ökonomisch-politische Prinzip des Imperialismus ist Expansion gewesen, wobei das bestimmende innenpolitische Ereignis jedoch die politische Emanzipation der Bourgeoisie war.
2. 1. Die große Krise - ökonomische Notwendigkeit von Expansion
Mit den 1870er Jahren ging dem durch den 'stramble for Africa' eingeleiteten imperialistischen Zeitalter ein Krisenjahrzehnt voraus, in welchem durch eine Überproduktionskrise der Wohlstand, den sich die Bourgeoisie in den vorangegangenen Jahrzehnten erworben hatte, durch die zwangsläufige Geldentwertung zunichte gemachte wurde. Diese Krise war eine unmittelbare Folge der ökonomischen Entwicklung in den europäischen Nationalstaaten seit den 1850er Jahren. Jetzt hatte die industrielle Erschließung der einzelnen europäischen Staaten insofern ihren Abschluss gefunden, als dass sie die nationalen Grenzen erreicht hatte, was bedeutet: Der nationale Kapital- und Warenmarkt war gesättigt. Dieses Krise wurde also vornehmlich durch den politischen Faktor der Eingrenzung der Wirtschaft auf einen nationalen Markt hervorgerufen, denn es waren allein diese nationalen Grenzen, welche eine fortwährende Kapitalakkumulation einschränkten, was die nationalen Wirtschaften in ihrem Bestand erheblich gefährdete. Folgerichtig mussten sich die Kapitaleigner profitablere Anlagemöglichkeiten außerhalb der nationalen Grenzen suchen.
Die Marktsättigung in den europäischen Nationalstaaten war jedoch nicht die alleinige Ursache der großen Krise. Vielmehr brachten die technologischen Neuerungen der industriellen Revolution einerseits eine umfassende Wandlung in den überkommenen sozialen Strukturen der europäischen Staaten mit sich. So wuchsen beispielsweise die Städte in Gebieten mit industriellen Schwerpunkten rapide an. Derartige Ansammlungen großer Menschenmassen ohne tiefere soziale Bindungen bargen die große Gefahr gewalttätiger sozialer Proteste in sich. Andererseits ermöglichten Neuerungen wie Eisenbahn und Dampfschifffahrt einen effektiveren Fernhandel, beispielsweise auch mit landwirtschaftlichen Produkten, die billig importiert eine Krise in den nationalen Landwirtschaften entfachten. Dieser ungewohnte internationale Warenfluss veranlasste viele europäische Staaten, aber auch die USA, zu Mitteln des Handelsprotektionismus zu greifen, um die Binnenwirtschaft vor ausländischer Konkurrenz zu schützen, was nicht selten unter Druck wirtschaftlicher Interessenverbände geschah.
Der auf Grund nicht vorhandener Akkumulationsmöglichkeiten entstandene Kapitalabfluss aus den europäischen Staaten wurde durch enorme Profitaussichten in bisher unerschlossene Territorien - hauptsächlich des afrikanischen Kontinents - gelenkt, wobei einer neuen Erscheinung innerhalb der bürgerlichen Handelswelt eine große Rolle zukam: Dem Finanzier. Der Finanzier unterschied sich von den herkömmlichen Produzenten oder Händlern dadurch, dass er weder Waren schuf, noch den Austausch von Waren betrieb, sondern Kapital vermittelte. Da jedoch Investitionen in nichterschlossenen Gebieten der Erde mit großem Risiko behaftet waren, kam der Beeinflussung der öffentlichen Meinung durch die Medien in diesen Fragen - angeregt und kontrolliert durch die Finanziers - eine entscheidende Bedeutung zu. Eine derartige Meinungsmanipulation führte naturgemäß zu einer Serie von Börsenschwindeln und Finanzskandalen. Alles in allem kam es den Finanziers darauf an, die Profitaussichten, auf Grund welcher sie ihre Geschäfte abschlossen, nicht durch eine reale Verdeutlichung des Risikogehalts der Transaktionen relativieren zu lassen, was freilich auch auf den Umfang dieser Geschäfte Auswirkungen gehabt hätte. In diesem Zusammenhang wäre die Untersuchung der Frage interessant, welchen Einfluss eine reale Risikokenntnis auf das Investitionsverhalten der Kapitaleigner ausgeübt hätte? Meiner Auffassung nach wäre die Quantität der Investitionen in den unerschlossenen Regionen zwar geringer gewesen, jedoch wäre wohl die Qualität dieses Vorgangs annähernd gleich geblieben, da andere Akkumulationsmöglichkeiten im übrigen Europa auf Grund der herrschenden Krise weitgehend nicht gegeben waren, und der Wirtschaftsraum Nordamerika sich eben erst aus sich selbst heraus zu entwickeln begann, als das Land im Inneren vollständig kolonialisiert war. Auch im Inneren der europäischen Staaten kam es zu erheblichen Profitschwindel, der durch Unternehmen ausgelöst wurde, die sich zu übersteigerten Profitversprechungen genötigt sahen, um wenigstens Teile des abströmenden Kapitals dem Land, und damit der nationalen Wirtschaft zu erhalten, was diese jedoch in außerordentliche Gefahr geraten ließ. Die im Staat erzeugten Finanzschwindel vergrößerten die unvermeidliche und schmerzhafte Erfahrung der Börseneinbrüche vieler Investitionen in den unerschlossenen Regionen der Erde nur noch weiter.
So begann sich die Bourgeoisie, die sich ihrer liberalen Grundhaltung gemäß bisher aus Staatsgeschäften herausgehalten hatte, obwohl sie die wirtschaftlich führende Klasse war, nun - da der Nationalstaat eine dynamische Akkumulation ihres Kapitals nicht mehr gewährleisten konnte - politisch zu emanzipieren, und um Einfluss im und auf den Staat zu ringen, um durch die Staatsmacht eine Sanktionierung ihrer Investitionen in den bisher unerschlossenen Regionen der Welt zu erreichen. Das Kennzeichen des Zeitalters des Imperialismus war das Prinzip der "....Expansion um der Expansion willen...", um die Voraussetzungen für eine stetige ökonomische Akkumulation zu schaffen. Hierbei war es nicht das Ziel, klassische Imperien von der Art des Römischen Reiches zu schaffen. Hierzu wären die europäischen Nationalstaaten überhaupt nicht in der Lage gewesen. Man war vielmehr bemüht, Raum für ökonomische Expansion zu schaffen, welche Voraussetzung für die dynamische Akkumulation des Kapitals war. Demzufolge hatte sich die staatliche Expansion stets den Bedürfnissen der wirtschaftlichen Expansion unterzuordnen und wurde von ihr bestimmt, wie Hannah Arendt feststellt. Der Nationalstaat selbst war - wie erwähnt - nicht zu der Gründung eines Großreiches fähig, da dieser "...auf einer historischen Zusammengehörigkeit von Territorium, (homogenen) Volk und Staat beruht[e]." Der Nationalstaat wäre daher nicht zu einer wirklichen Integration fremder Völker imstande gewesen. Außerdem müsste es sich die Zustimmung dieser Völker zur Nationalstaatsregierung mit Gewalt erzwingen, was wiederum negativ auf das Mutterland gewirkt hätte. Eine resolute Durchsetzung dieser Zustimmung hätte stets die Gefahr der Entwicklung einer Tyrannis geborgen, da der Eroberer nicht vor dem Einsatz radikalster Mittel zu diesem Zweck zurückschrecken konnte. Dieses hätte sich zwangsläufig auch gegen die demokratischen Einrichtungen des Mutterlandes gewandt, da keine dieser demokratischen Institutionen diesen zügellosen und unkontrollierten Einsatz von Macht und Gewalt sanktionieren konnte, was später auch im Konflikt zwischen den Kolonialbeamten und dem 'imperialen Faktor' in Großbritannien zum Ausdruck kam. Jedoch ist es im Zeitalter des Imperialismus der Bourgeoisie nie vollständig gelungen, den Staat absolut für die Sanktionierung ihrer ökonomischen Bedürfnisse zu instrumentalisieren. Den wirklichen Imperialisten war bewusst, dass sich der Körper des Nationalstaats nicht für eine politische Neugründung eignete und man erworbenes Land nur mit Mitten der Macht und Gewalt gefügig halten konnte. Hannah Arendt stellte treffend fest: "Imperialismus ist nicht Reichsgründung, und Expansion ist nicht Eroberung."
Der Anfang der 1880er Jahre einsetzende 'stramble for Africa' sollte der Bourgeoisie als Ausweg aus der Krise erscheinen. Das quasi parallele Expandieren der meisten europäischen Staaten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte jeweils eine enorme Neuerwerbung an Kolonialgebiet zur Folge, was den Anschein eines friedlichen Wettbewerbs um neue Territorien als Grundlage der wirtschaftlichen Gesundung aufkommen ließ. Bei intensiverer Betrachtung zeigt sich jedoch schnell, die Ruhe innerhalb Europas wurde von zahlreichen Kolonialkriegen begleitet, die weit vor der endgültigen Erschöpfung aller noch unerschlossenen Landressourcen begannen, und ökonomische Vorteile zu sichern bestrebt waren.
2. 2. Expansion als bestimmendes Prinzip des imperialistischem Zeitalters
"Expansion als beständiges und höchstes Ziel aller Politik ist die zentrale politische Idee des Imperialismus." Die Expansion hat sich im ökonomischen Bereich als funktionelles Prinzip bewährt, weil es einem Bewegungsrhythmus einer sich ständig steigernden industriellen Produktion und eines sich ständig vergrößernden Konsums von Gütern entsprach. Aus dieser stetigen Steigerung von Erzeugung und Verbrauch resultiert natürlich auch eine dynamische Erhöhung des Produktionsprofites, eine dauerhafte Kapitalakkumulation. Dieses Prinzip der ständigen Akkumulation hat ein zum überkommenen Eigentumsbegriff differierendes Besitzverständnis mit sich gebracht. Besitz wurde von der Bourgeoisie nicht mehr als Konsumtionsgut aufgefasst. Vielmehr wurde Besitz vom Ergebnis zum Ausgangspunkt neuen Kapitalerwerbs. Diese Erkenntnis brachte auch mit sich, dass man zur Bourgeoisie als Träger der wirtschaftlichen Entwicklung nicht alle Besitzenden rechnen konnte, "...aber daß jeder in ihr willkommen war, der den Prozeß der Akkumulation des Besitzes mitmachen wollte oder konnte", wie Hannah Arendt meint. Expansion als stetige Steigerung von industrieller Produktion und wirtschaftlicher Transaktion bedarf einer ständigen Zufuhr von industriell unerschlossenem Gebiets- und Menschenpotential, um die "ursprüngliche Akkumulation" [Karl Marx] zu gewährleisten. Ist eine Gesellschaft im Inneren eines Staates vollständig durchdrungen von kapitalistischer Produktion und Konsumtion, behindern die nationalen (politischen) Grenzen die Fortführung dieser Akkumulation, was die kapitalistische Wirtschaft existentiell bedroht. Dem gesellschaftlichen Träger der Wirtschaft, der Bourgeoisie, kommt nun die Aufgabe zu, diese Begrenzung zu überwinden, die Fortführung der ökonomischen Expansion zu gewährleisten und neue Möglichkeiten und "...Methoden der ursprünglichen Akkumulation..." kapitalistischen Reichtums zu suchen. Nach Auffassung Hannah Arendts hat die Hervorhebung der ökonomischen Triebkräfte des Imperialismus durch sozialistische Theoretiker "...die eigentliche politische Struktur, den Versuch nämlich, die Menschen in Herren- und Sklavenrassen..." zu differenzieren, verdeckt. Meines Erachtens ist die ökonomische Komponente bei der Interpretation des imperialistischen Zeitalters trotz allem die bestimmende. Die Expansion in ihrer Funktion als Stabilisator der nationalen Wirtschaften hat den Fortbestand der Nationalstaaten am Ende des 19. Jahrhunderts gesichert. Die europäischen Regierungen hegten Misstrauen gegen expansive Außenpolitik, doch ihren Politikern war die Situation der Nationalstaaten bewusst, deshalb ließen sie sich aus nationaler und ökonomischer Notwendigkeit von der imperialistischen Bourgeoisie instrumentalisieren - was ihnen oft nicht bewusst gewesen ist -, um den nationalen Wohlstand zu erhalten und in der Entwicklung nicht hinter den Konkurrenten zurückzufallen, sowie das ausströmende Kapital, was in der nationalen Wirtschaft erzeugt wurde, dieser zu erhalten. Allein die Anwendung zügelloser Macht und Gewalt in den Kolonien ließ die reinen Gesetze des Kapitals wirken. Ungeheuere Akkumulation war das Ergebnis dessen, was den Anreiz der Expansion nur steigern konnte. Kapitalexport und auswärtige Anlagen wurden zu einer ständigen Einrichtung der Wirtschaftssysteme und zur normalen Funktion der Außenpolitik.
2. 3. Politische Emanzipation der Bourgeoisie
Die Bourgeoisie ist mit dem europäischen Nationalstaat gewachsen. Jedoch blieb die Trägerklasse des neuen wirtschaftlichen Systems immer separiert von dem 'Staat', den sie höchstens als ein polizeiliches Instrument zur Gewährleistung der inneren Ordnung verstand. Sie blieb vom Staat solange getrennt, solange er ihr den notwendigen Rahmen für die Entwicklung ihrer wirtschaftlichen Potenz bot. Da aber das Prinzip der kapitalistischen Wirtschaft auf dynamischem Wachstum beruhte, war ein Konflikt mit dem rahmenbietenden Staat programmiert, denn im Gegensatz zum stetigen Wachstum der Wirtschaft sind politische Strukturen in ihrer Flexibilität immer begrenzt, was die Notwendigkeit der Zerstörung der Grenzen bei deren Erreichen birgt. Dieser Punkt war, wie oben beschrieben, in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts erreicht worden. Nun wurde die Bourgeoisie durch die Erfordernisse der Wirtschaft gezwungen, politisch zu werden, da die Existenz der Grundlagen ihres wirtschaftlichen Systems stark bedroht war. Die ökonomische Ausdünnung der Gesellschaft durch Geldentwertung und Kapitalabfluss machte die Beeinflussung von staatlicher Politik, hauptsächlich im auswärtigen Bereich, mit dem Ziel der Sicherung von ökonomischer Ausdehnung notwendig. Da aber die Mitglieder der bourgeoisen Klasse stets wirtschaftlichen Interessen verhaftet blieben, wurde die wirtschaftliche Maxime des konkurrenzgebundenen Handelns zum Prinzip der Ordnung öffentlicher Angelegenheiten, eben hauptsächlich und zuerst in der Außenpolitik. Die Anwendung zügelloser Macht und Gewalt - zum Zweck der Erlangung maximaler Profite aus den Kolonialgeschäften - wurde nun zur festen Komponente der nationalen Außenpolitik. Gewalt und Macht wurden zum ausdrücklichen Ziel politischen Handelns. Macht wandelte sich vom Element zum Wesen des politischen Handelns, als sie von dem politischen Körper getrennt wurde, in dem sie entstanden war. Der daraus folgende Zerstörungsprozess würde erst unter Einbeziehung aller erreichbaren Materie zum Abschluss kommen. Die den Staat vertretenden 'alten' Politiker konnten sich dem imperialistischen Drängen der Bourgeoisie nicht entziehen, da eben die realen ökonomischen Grundlagen des Staates in Vernichtungsgefahr geraten waren, somit die nationale Größe und Macht innerhalb des europäischen Staatensystems bedroht war. Ihr Handeln folge also den ökonomischen Erwägungen der Bourgeoisie - wenn auch mit Widerwillen -, um eben ihre eigenen 'nationalen Werte' zu erhalten. Der Staat selbst konnte im Zeitalter des Imperialismus nicht vollends für die ökonomische Expansion in Anspruch genommen werden. Erst innerhalb totalitärer Regime war es möglich, dem Staat ganz den ökonomischen Bedürfnissen der Wirtschaft unterzuordnen. Dies führte freilich zu der Zerstörung aller überkommenen sozialen Strukturen, was eben auch die Klasse der Bourgeoisie einbezog. Es lässt sich deshalb resümieren, dass der Kapitalismus das erste, und - wie Hannah Arendt meint - auch das letzte Stadium der Herrschaft der Bourgeoisie gewesen ist.
2. 4. Das Bündnis zwischen überflüssigem Kapital und überflüssiger Arbeitskraft
Hannah Arendt schenkte dem Zusammenhang von überflüssigem Kapital und überflüssiger Arbeitskraft besondere Aufmerksamkeit. Beides sind Produkte der kapitalistischen Gesellschaft, und beide sind gleichermaßen in ihr überflüssig. Die überflüssige Arbeitskraft, die allen gesellschaftlichen Klassen entstammte, und die verarmten und verbrecherischen Elemente der Gesellschaft darstellte, wurde von Hannah Arendt als 'Mob' tituliert. Beide Komponenten flossen bereits vor dem imperialistischen Zeitalter in das zu erschließende Territorium der Welt ab. Das überflüssige Kapital folge märchenhaften Profitaussichten. Die überflüssigen Arbeitskräfte wurden aus Sicherheitserwägungen heraus - da sie wegen ihrer sozialen Ungebundenheit für den Nationalstaat ein erhebliches Risiko darstellten - in die Kolonien exportiert. Natürlich werden für die einzelnen Individuen der überflüssigen Arbeitskraft auch privaten Glücksinteressen eine Rolle gespielt haben. "Die Eigentümer überflüssigen Kapitals waren die einzigen, welche die überflüssigen Arbeitskräfte gebrauchen konnten". Der Export von staatlichen Machtmitteln in unerschlossene Territorien schien nun der einzige Weg zu sein, um den wachsenden Verlust von Kapital und Arbeitskraft, der in den Krisenjahren um 1875 auftrat, aufzuhalten. Die Nationen selber waren durch Klassengegensätze zersplittert worden. Die Imperialisten gaben vor, der Nation, durch die mittels Expansion zu erhaltenen nationale Größe, ein einheitliches Interesse zurückzugeben. Dieser hohe Anspruch schien durch die niemals wirklich populäre Opposition gegen dem Imperialismus bestätigt zu sein; jedoch ist die relative soziale Ruhe im imperialistischen Zeitalter wohl eher auf eine existierende Interessendifferenzierung als -einheit zurückzuführen. Diese basierte sicherlich auf dem Interesse großer Teile der mittleren Bevölkerungsschichten, die in der Zeit der Spekulationskrise in den 1870er Jahren verlorenen Spareinlagen in irgend einer Form zurück zu erhalten. Der Imperialismus konnte die sozialen Spannungen im Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur mühsam übertünchen, geschweige denn beseitigen. Ergebnis dieser mit nationalen Gefühlen und sozialen Hoffnungen operierenden Politik im imperialistischen Zeitalter war wohl lediglich eine schlechte Konservierung einer überlebten Sozialstruktur, welche eine wirkliche Anteilnahme möglichst weiter Bevölkerungskreise am gesellschaftlichen Wohlstand nicht zu gewährleisten vermochte.
Der Imperialismus hat das europäische Staatensystem fast ein halbes Jahrhundert am Leben erhalten. Die in seinem Namen durchgeführte Erwerbung von kapitalistisch unerschlossenem Territorium durch die Macht des Staates hat die nationalen Wirtschaften vor dem Zusammenbruch bewahrt, welcher unweigerlich aus der Überwindung der Zwängen nationaler Grenzen durch das Kapital gefolgt wäre. Und er hat den Kollaps der überalterten sozialen Strukturen aufgeschoben, indem er mit dem Schein einer gesamtnationalen Anstrengung die Interessenvielfalt und die Klassengegensätze innerhalb der Gesellschaft zu verdecken bestrebt war, wobei er lediglich die Profitsucht einer relativ kleinen Gruppe vertrat. Ein entscheidendes Merkmal ist für Hannah Arendt die politische Emanzipation der Bourgeoisie und ihr politische Handeln. Mittels der Anwendung ihres Prinzips des "urteilenden Verstehen[s]" verdeutlicht sie ihre Abneigung gegenüber der Vermengung von privaten Interessen und Staatspolitik durch die Bourgeoisie, welche das imperialistische Zeitalter entscheidend geprägt hat.