Das Verhalten der Individuen und Gruppen vor, während und nach dem Aufstand wurde durch ihre spezifische bzw. kollektive Wahrnehmung der Ereignisse bestimmt.
Aus den von mir ausgewerteten Quellen, die fast ausschließlich durch offizielle Institutionen erarbeitet wurden, lassen sich einige Informationen über Handlungsmotive und Ereignisreflexionen der Personen gewinnen, die sich im Kontext dieses Konfliktes unmittelbar gegenüber standen.
Im Frühjahr 1953 hatte auch die Bitterfelder Bevölkerung die Beschneidung ökonomischer und sozialer Vergünstigungen zu spüren bekommen. Insbesondere innerhalb der Belegschaften der Industriebetriebe des Kreises war eine latente Verbitterung über die Politik der SED und der Regierung der DDR entstanden, die durch den Beschluß zur Normenerhöhung vom 28. Mai, den man in einigen Betrieben bereits Anfang Juni administrativ umzusetzen begann, noch verstärkt wurde. Auch die Verkündung des Neuen Kurses durch das Politbüro des ZK der SED am 9. Juni 1953 vermochte diesen Frust bei den Werktätigen nicht abzubauen, da über die sie betreffenden Belange kaum Aussagen getroffen wurden. Aus verschiedenen Stimmungsberichten - angefertigt von Angehörigen der Betriebsschutzämter der Polizei sowie betrieblichen Funktionären der SED - sind einige Informationen über den Inhalt der nach dem 9. Juni in den Großbetrieben des Kreises zwischen Belegschaftsangehörigen und Agitatoren geführten Diskussionen überliefert.
Zweifellos inspirierte das Kommuniqué des Politbüros die Diskussion über die Qualität der Politik der Partei und der Regierung der DDR. Grundsätzlich traf das Eingeständnis von Fehlern in der die Lebensqualität des Einzelnen einschränkenden Politik seit dem Sommer 1952 auf Zustimmung, wobei unter den Arbeitnehmern durchaus das Unverständnis darüber geäußert wurde, "dass dem Polit-Büro ein solcher Fehler unterlaufen konnte, wo es doch das höchste politische Organ in der Deutschen Demokratischen Republik ist". Spekuliert wurde auch über die Ursachen der Verkündung des Neuen Kurses; so waren Belegschaftsmitglieder im EKB der Auffassung, daß ein Streik in drei Großbetrieben der DDR das Politbüro und die Regierung dazu gezwungen hatte, einen anderen Kurs in ihrer Politik einzuleiten. Eine selbst inspirierte Reformbereitschaft wurde dem Politbüro nicht zugetraut, vielmehr vermeinte man in dem Beschluß das "Ergebnis stärkeren Druckes von anderer Seite" zu erkennen. Deutlicher wurden Arbeiter, die per Eisenbahn ihren Arbeitsplatz aufsuchten, d. h. von ihrem Wohnort längere Wegstrecken zurücklegten und dadurch relativ engen Kontakt zu Beschäftigten anderer Betriebe unterhielten: "Sie sagten, dass durch das Ableben des Genossen Stalin eine Änderung in der Politik der SU eingetreten sei. (...) Der jetzt eingesetzte Hohe Kommissar, Genosse Semjonow, hätte den Auftrag erhalten, die Partei der SED von dem scharfen und konsequenten Kurs der Politik [des Aufbaus des Sozialismus] zurück zu pfeifen." Neben dieser realistischen Einschätzung waren auch allerhand Gerüchte im Umlauf; so wurde beispielsweise in Raguhn darüber gemutmaßt, "dass der Diktator Walter Ulbricht von den Blockparteien kaltgestellt wurde und deshalb der Kurs der Politik um 180 Grad wechselte", des weiteren sollte der Präsident Wilhelm Pieck verhaftet und in der CSR das Standrecht verhängt worden sein. Neben den Ursachen wurde auch die Frage nach der Verantwortlichkeit der politischen Fehlentwicklung gestellt: "Vor allem wurde besonders in den Werkstätten festgestellt ..., dass man diejenigen, die das alles eingebrockt haben, zur Verantwortung ziehen müsse."
Der soziale Frust drückte sich in der Debatte über den Inhalt des Kommuniqués aus. Verschiedene Belegschaftsmitglieder befürchteten, daß durch die Bindung finanzieller Mittel für die Ermöglichung der Rückkehr geflüchteter Bauern erneut die Arbeiter benachteiligt würden, dieser "Beschluss [sei] ein Vertrauensbruch zwischen den Arbeitern und der Regierung". Weit stärker als an der Kritik über diese Maßnahme wurde die Verärgerung vieler Werktätiger in der Diskussion über die im Kommuniqué nicht revidierten Beschlüsse deutlich. Sie interessierten sich hier insbesondere für die im Frühjahr gestrichenen Zuschläge für Nacht- und Sonntagsarbeit sowie für die am 28. Mai beschlossene Normenerhöhung. In der Farbenfabrik Wolfen wurde beispielsweise die Meinung vertreten, "dass den Arbeitern das weggenommen wird, was man vor 1930 erkämpft hat, und dieses nach 1945 auf der anderen Seite der Intelligenz zugesprochen wird."
Die Angehörigen der Intelligenz - in den Industriebetrieben zumeist Wissenschaftler und Ingenieure - äußerten in der Tat über den Neuen Kurs überwiegend positive Meinungen. Sie, die oftmals durch Einzelverträge in wirtschaftlicher Hinsicht weit besser als Arbeiter oder Angestellte situiert waren, konnten verständlicherweise keine Verärgerung über weggefallene Nacht- und Sonntagszuschläge oder Normerhöhungen empfinden, denn derartige Regelungen tangierten ihren Tätigkeitsbereich nicht.
Über die administrative Normenerhöhung, die in einer Abteilung der Farbenfabrik Wolfen einen Umfang von 20 % erreichen sollte, entbrannten zwischen Arbeitnehmern und Funktionären heiße Debatten, wobei unter der Belegschaft die Zuversicht geäußert wurde: "Jetzt haben wir die Fragen der Lebensmittelkarten, der Fahrpresierhöhung [sic] und die Teuerung der Zuckerwaren gelöst und jetzt werden wir auch noch [eine Lösung in der] ... Frage der Normen erreichen." Diese Klärung sollte schneller erfolgen, als man wohl erwartet hatte. Jedoch konnten die SED-Funktionäre auch nach der Erklärung des Politbüros zur Normenfrage vom 16. Juni, die sofort von Agitationsgruppen der BPO unter den in den Betrieben anwesenden Arbeitern der Spät- und Nachtschichten verbreitet wurde, keine Entspannung der Atmosphäre innerhalb der Belegschaften verzeichnen. Zu tief saß das Mißtrauen gegen das politische Taktieren der SED.
Auch in Bitterfeld war Mitte Juni eine Situation entstanden, in welcher der auf eine allmähliche Verschlechterung der Lebensqualität des Einzelnen basierende soziale Frust innerhalb der Arbeiterschaft nicht mehr allein durch die Revidierung einer entscheidenden Komponente dessen - der Normenerhöhung - beseitigt werden konnte. Vielmehr verlangte der latente Vertrauensverlust und die aufgestaute Wut nach einer grundsätzlichen Klärung des Verhältnisses zwischen der Arbeiterschaft und der Partei der Arbeiterklasse, wie sich die SED zu titulieren pflegte.
Unter den Werktätigen war zudem - nicht zuletzt durch den politischen Kurswechsel inspiriert - ein Bewußtsein der eigenen Macht im Bezug auf die Möglichkeiten der Beeinflussung der Politik von Partei und Regierung entstanden, welches u. a. durch punktuelle Auseinandersetzungen mit Funktionären während der ersten Junihälfte gestärkt wurde. So bedurfte es nur eines auslösenden Moments, um diese explosive Atmosphäre zur Entladung zu bringen. Dieses Moment wurde offenbar durch Nachrichten über Arbeitskämpfe größeren Ausmaßes in Ostberlin vom 16. Juni - die per RIAS Berlin und NWDR Hamburg auch nach Bitterfeld gelangt waren - gegeben. Insbesondere in den Großbetrieben des Kreises entstand daraufhin am Morgen des 17. Juni ein Solidarisierungseffekt mit den Arbeitnehmern des volkseigenen Wirtschaftssektors in Ostberlin und zwischen den Beschäftigten der Chemiewerke in Bitterfeld und Wolfen; dieser Solidarisierungseffekt wurde zur Initialzündung der innerbetrieblichen Streiks sowie der überbetrieblichen Demonstrationen.
Die Dynamik der Masse ließ Bevölkerungsteile aus durchquerten Gemeinden und Belegschaften passierter Betriebe sich diesen Demonstrationszügen anschließen, so daß am späten Vormittag im Zentrum von Bitterfeld eine Kundgebung mit einer bis dato dort ungesehenen Teilnehmerzahl stattfand, was den quantitativen und in Hinsicht auf die Gruppendynamik auch den qualitativen Höhepunkt der Ereignisse sowie den Beginn und gleichzeitig den Höhepunkt des Aufstandes darstellte.
Eine große Zahl vor allem älterer, an Streik- und Demonstrationsdisziplin gewöhnter Werktätiger war durch die Kundgebung in ihrem Bedürfnis nach Äußerung ihrer Unzufriedenheit mit der Politik des Staates befriedigt worden, denn sie verließen danach Bitterfeld, um den Arbeitskampf entweder in ihren Betrieben fortzusetzen oder nach Hause zu gehen; zudem hatten sie ihr individuelles Handlungsmandat per Akklamation auf das Kreisstreikkomitee übertragen. Das Protestbedürfnis der zurückbleibenden inhomogenen Menge von Jugendlichen, nicht werktätigen Einwohnern und frustrierten Arbeitnehmern wandelte sich um die Mittagszeit in Aggression gegen Dienststellen von Verwaltungen, Sicherheitsorganen und gesellschaftlichen Organisationen, die man mit dem Staat identifizierte. Zwar war das Ergebnis dieser Aggressionswelle die vorübergehende Zerschlagung dieser Institutionen, doch niemand auf der Seite der Aufständischen vermochte es, dieses Machtvakuum zu ihrem Vorteil auszufüllen. Das Kreisstreikkomitee, welches ein Ansatz für eine systematische Aufstandsführung hätte sein können, war nicht in der Lage, Aktivitäten gezielt zu koordinieren und die Aktionsdynamik unter der kleiner werdenden Menge der Aufständischen aufrechtzuerhalten, bis schließlich seine Mitglieder selbst widerstandslos vor den einrückenden Soldaten der Besatzungsmacht kapitulierten.
Am Vormittag hatte sich den Streikaktivisten angesichts der demonstrierenden Massen in Bitterfeld und ständig eintreffender Nachrichten über ähnliche Ereignisse in verschiedenen Städten der DDR der Eindruck vermittelt, daß sich die Berliner Demonstration vom 16. Juni auf große Teile der Republik als ein Signal für aktiven Widerstand gegen die SED und den Staat ausgewirkt hatte und man in Bitterfeld im Handeln nicht isoliert gegen andere Regionen war. Dieser Eindruck und die Dynamik der Masse, die nur schwer bzw. überhaupt nicht von den Streikführern gesteuert werden konnte, führte folgerichtig zur Zerschlagung der Organe des Staates in Bitterfeld.
Daß jedoch das Kreisstreikkomitee diese Erscheinung nicht nutzte, ist mit einer der Situation unangemessenen Staatstreue seiner führenden Mitglieder zu begründen, welche zu diesem Zeitpunkt - da man gerade dem Staat seinen Widerstand verdeutlichen wollte - durchaus irrationale Züge trug. Bemerkenswert ist dies zudem, da noch während des Beginns der Tagung des Kreisstreikkomitees die Zuversicht auf einen erfolgreichen Ausgang des Aufstands ungebrochen war; erste Nachrichten über die Verhängung des Ausnahmezustandes über Berlin und das Anrücken sowjetischer Truppen auf Bitterfeld trafen erst zu einem späteren Zeitpunkt ein. Das Scheitern des Aufstandes in Bitterfeld zeichnete sich somit bereits nach der Kundgebung auf dem Platz der Jugend und den Besetzungen der staatlichen Dienststellen - weitgehend unbeeinflußt von äußeren Faktoren - ab.
Waren die Aktionen durch die Nachrichten über die Berliner Unruhen von den Rundfunksendern RIAS und NWDR initiiert worden, so wurden auch die Forderungen, die man am Morgen in den Betrieben und im Laufe des Tage in Bitterfeld erhoben hatte, durch Informationen dieser Sender über die Forderungen der Berliner Demonstranten inspiriert. Dies schloß nicht aus, daß man diesen Forderungen auch spezifisch eigene Anliegen hinzufügte. So wurde bereits in der Farbenfabrik Wolfen am Morgen die "Aufhebung der Oder-Neisse-Grenze" gefordert. Diese Forderung wurde offenbar durch die Herkunft des sie formulierenden Streikaktivisten inspiriert, doch sind auch an den folgenden Tagen Diskussionen über dieses Problem registriert worden, was darauf schließen läßt, daß sich eine große Zahl der im Kreisgebiet wohnhaften Umsiedler noch nicht mit der Vertreibung aus ihrer Heimat abgefunden hatten. Es waren unter ihnen Gerüchte verbreitet, daß in Polen das Unkraut einen Meter hoch stünde und sie bald wieder in ihre Heimat zurückkehren könnten. Ob dieses Problem am 17. Juni auch in anderen Kreisen mit einer ähnlich hohen Konzentration an Umsiedlern thematisiert wurde, muß noch eingehend untersucht werden.
Die Empörung der Bevölkerung und insbesondere der Mitglieder der Betriebsbelegschaften über die Inhaftierung ihrer Streikführer und die Besetzung des Kreisgebiets und der Großbetriebe durch die Besatzungsmacht äußerte sich in den Tagen nach dem 17. Juni zunächst in der Fortsetzung des Streiks, welcher durch die Forderungen nach der Freilassung der verhafteten Kollegen und dem Abzug der Sowjetsoldaten aus den Betrieben begleitet wurde. Diese Forderungen wurden, da eine Organisierung in größerem Rahmen durch die Besatzungsmacht und die deutschen Sicherheitsorgane verhindert wurde, innerhalb der einzelnen Abteilungen der Großbetriebe formuliert, wobei diese zumeist von Arbeitern und Angestellten vorgebrachten Forderungen auch punktuell Unterstützung in den Reihen der Intelligenz fanden. Verschiedene Wissenschaftler und Ingenieure, die sich während des Aufstandes überwiegend zurückhaltend verhalten hatten, beurteilten die Verhaftung von ihre Rechte einfordernden Werktätigen als überspitzte und ungerechtfertigte Reaktion der Partei und Regierung auf die Ereignisse.
Ohne das eine konkrete Erfüllung dieser Forderungen nachgewiesen werden konnte, nahm ein Großteil der Belegschaftsangehörigen ihre Arbeit spätestens am 22. Juni wieder vollständig auf. Der ideologische Druck, der von den betrieblichen Funktionären auf die Streikenden ausgeübt wurde, war offenbar so stark, daß sie es vorzogen, ihrer Forderung nach Freilassung der inhaftierten Kollegen - die Besatzungsarmee hatte ihr Präsenz in den Betrieben inzwischen stark reduziert - aus dem Arbeitsprozeß heraus weiteren Nachdruck zu verleihen. Durch das Interview des Justizministers Max Fechner mit dem Neuen Deutschland fanden sie ihre Forderungen am 30. Juni erstmals von offizieller Seite bestätigt, so daß sie ihre Position erstarkt sahen und während der ersten Julihälfte zahlreiche Aktionen - Unterschriften- und Geldsammlungen, begrenzte Arbeitskampfmaßnahmen etc. - für die Erreichung ihres Ziels durchführten. Diese blieben jedoch weitgehend ohne Erfolg. Die endgültige Aussichtslosigkeit ihrer Bemühungen bekamen die aktiven Belegschaftsmitglieder Mitte Juli durch die Entlassung Fechners und die Einsetzung Hilde Benjamins als Justizministerin signalisiert.
Diejenigen, die sich in den Belegschaften für die Freilassung ihrer Kollegen engagierten, waren zu jeder Zeit in der Minderheit. Ihre Aktionen hatten somit innerhalb der großen Betriebe nur begrenzte Wirkung. Konstatieren muß man, daß die Zentren dieses Widerstands quasi die selben Kollektive und Abteilungen in den einzelnen Betrieben bildeten, in welchen am 17. Juni die innerbetrieblichen Streiks und Proteste initiiert wurden.
Das Konfliktpotential der Masse der Werktätigen wurde dagegen durch die wirtschaftlichen und sozialen Zugeständnisse der Regierung und insbesondere der Betriebsleitungen weitgehend neutralisiert. Arbeitskampfmaßnahmen, die nicht zum individuellen Vorteil dienten, waren unpopulär. Das Solidaritätsempfinden innerhalb der Belegschaften war begrenzt und endete an dem Punkt, wo durch Widerstandsaktivitäten die eigene Existenz in Frage gestellt werden konnte.
Während der zur Befriedigung der materiellen Bedürfnisse dienenden Propagandakampagne im Juni und Juli konnten die Gründe für den sozialen Frust verbal geäußert werden und wurden - wenn möglich - beseitigt. Auffallend ist, daß grundsätzlich wirtschaftliche Unzufriedenheit die Ursache für diesen Frust gewesen war und die Forderungen nach politischen Veränderungen nur im Kontext der eingestandenen Schwäche der politischen Führung unterstützt wurden.
Daß die Arbeiter und Angestellten das System nicht in Frage stellten, wirkte einerseits beruhigend auf die Funktionäre und begründete ihren Eifer bei der Realisierung wirtschaftlicher und sozialer Forderungen der Belegschaft, andererseits war die Vermeidung einer Ursachendebatte im Sinne der SED für die Parteifunktionäre durchaus unbefriedigend, da eine Manipulation der Belegschaftsmitglieder in ihrer individuellen Interpretation des Aufstands nur ungenügend vorangetrieben werden konnte. Unter den Werktätigen war für eine Blockade gegen derartige Diskussionen wohl vor allem die Angst vor Repressalien ausschlaggebend, die einsetzen konnten, wenn sie ihre ehrliche Meinung über die Situation in der DDR äußerten. Diese Befürchtung war wohl auch in der Ära des Neuen Kurses nicht völlig unberechtigt.
Die Ursachen für die Unzufriedenheit der einzelnen Individuen, die während der Kampagne zur Sprache kamen, waren durchaus sehr unterschiedlicher Natur. Sie reichten von latenter Ungewißheit über das Schicksal von im Krieg verschollener Angehöriger, wie diese beispielsweise von berufstätigen Frauen im VEB Grundstoff- und Textilwerk Pouch häufig geäußert wurde, über zu niedrige Gehaltszahlung für Jungingenieure, bis zur Konfiszierung amerikanischen Kaffees aus Westpaketen. Auch erzeugten Maßnahmen des Neuen Kurses neue Unsicherheitsfaktoren in verschiedenen Berufsgruppen - wie beispielsweise bei den Bauarbeitern - die an Großprojekten der Schwerindustrie gearbeitet hatten, welche nun schlagartig stillgelegt wurden.
Nach dem 17. Juni und insbesondere während der nochmaligen Zuspitzung der Situation in einigen Betrieben der DDR in der Mitte des Monats Juli kursierten unter der Bevölkerung Gerüchte über einen bevorstehenden Generalstreik bzw. eine Wiederholung des Aufstands. Diese Gerüchte waren Ausdruck einer in der Bevölkerung unterschwellig fortbestehenden Hoffnung auf grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und einer tiefen Verunsicherung gegenüber den nach und nach publik werdenden Beschlüssen der Regierung zur Umsetzung des Neuen Kurses. Natürlich wurde diese Gerüchtebildung auch durch die weitgehende Öffentlichkeitsabstinenz der führenden Köpfe von SED und Regierung nach dem Aufstand ermöglicht, die vor allem durch die parteiinterne Auseinandersetzung um den Charakter der künftigen Politik bedingt gewesen sein dürfte.
Weite Teile der Bevölkerung reagierten als Ausdruck ihrer tiefen Verunsicherung auf die augenscheinliche Krise und die umlaufenden Gerüchte durch verstärkten Aufkauf von Waren, durch Räumung der Konten bei den Sparkassen und durch Speicherung von Wasser, das aus dem öffentlichen Netz entnommen wurde. Hierdurch kam es stellenweise zu Engpässen in der Trinkwasser- und Lebensmittelversorgung, die durch Versorgungsschwierigkeiten im Transportwesen verstärkt wurden. Jedoch waren diese Tendenzen offenbar nicht so umfangreich, daß es unmittelbar nach dem 17. Juni im Kreisgebiet zu einer ernstlichen Versorgungskrise gekommen wäre.
Das hauptsächliche Handlungsmotiv für große Teile der Bevölkerung war vor, während und nach dem 17. Juni die Befriedigung materieller Bedürfnisse. In den Betrieben begehrte man vor allem gegen Lohnkürzungen auf, welche die allgemein verschlechterte Lebenssituation noch unerträglicher zu machen drohten. Eben durch den Wegfall dieser Bedrohung und durch die begrenzte Erleichterung der Lebenssituation mittels wirtschaftlicher und sozialer Zugeständnisse vor allem auf Betriebsebene wurde das Aggressionspotential eingedämmt, das sich in der Bevölkerung und insbesondere in der Arbeiterschaft am 17. Juni teilweise entladen hatte. Das Interesse an der Erlangung politischer Freiheiten war dagegen begrenzt, die Bereitschaft sich für diese einzusetzen war nur so lange vorhanden, da materielle Ansprüche gegen den Arbeitgeber durchgesetzt werden sollten. Da der Staat im sozialistischen Wirtschaftssektor letztendlich als Arbeitgeber anzusehen war, richteten sich diese Ansprüche zwangsläufig gegen ihn. Jedoch kann die Forderung nach Beseitigung der damaligen Staatsführung nicht als grundsätzliche Absage an das praktizierte Wirtschaftsmodell angesehen werden, vielmehr erstrebte die Mehrzahl der Arbeiter und Angestellten eine gesicherte wirtschaftliche Existenz, wie sie wohl in dieser Form nur in sozialisierten Betrieben zu erreichen war.
5. 2. Die Vertreter des Staates
Die Funktionäre in den Bitterfelder und Wolfener Großbetrieben verzeichneten Anfang Juni unter den Mitgliedern der SED eine zunehmende Distanz zur Politik ihrer Führung. Sie hielten sich in Diskussionen zurück, mancher trug kein Parteiabzeichen mehr, die Arbeit der Partei an der Basis stagnierte. Offenbar war die Entwicklung seit dem Beschluß über den Aufbau des Sozialismus in der DDR nicht spurlos an den einfachen Parteimitgliedern vorüber gegangen. Die Auswirkungen der harten Politik der von der SED getragenen Regierung hatte sie zunehmend ihrer Partei entfremdet; die abrupte Wende vom 9. Juni ließ zu dem bei vielen Mitgliedern, welche in der Zeit davor noch versucht hatten, die Politik der SED einigermaßen in der Diskussion mit Kollegen zu vertreten und dabei häufig in Erklärungsnotstand geraten waren, Resignation und Frust aufkommen. Aus ihren Reihen war demnach keine nachhaltige Unterstützung für die Parteiführung in einer Krisensituation zu erwarten, und in der Tat nahm ein nicht geringer Teil der Parteimitglieder in Bitterfeld mehr oder minder aktiv an den Aufstandsereignissen teil, was von der SED-Kreisleitung als Ergebnis "schlechte[r] Kaderpolitik in der Vergangenheit" interpretiert wurde. Trotzdem war der Schock des 17. Juni auch in den Reihen der einfachen Parteimitglieder evident; die Angst vor einer Wiederholung einer solchen Krisensituation - Gerüchte darüber verstummten auch viele Wochen nach dem Aufstand nicht - verstärkte die Verunsicherung an der SED-Basis weiter.
Auch den Funktionären der SED-Gliederungen wurde die Arbeit durch ihre Parteiführung nicht leicht gemacht. Insbesondere sie waren durch den unerwarteten Kurswechsel tief verunsichert und mußten sich von den Arbeitern, denen sie nun den Neuen Kurs zu verkaufen hatten, neben handgreiflichen Anfeindungen vorwerfen lassen: "Das, was wir Euch schon vor mehreren Wochen gesagt haben, ist nun Wirklichkeit geworden. Ihr waret auch unserer Meinung ... aber Ihr habt bloß alles vorbehaltlos hingenommen und Euch nicht widersetzt." Zwar versuchten sie, jede Stimmungsäußerung der Werktätigen zu registrieren, doch wurden sie durch die Dynamik der Ereignisse vom 17. Juni völlig überrascht. Vom übergeordneten Parteiapparat waren sie weder über die Ereignisse in Berlin informiert worden, noch hatten sie irgendwelche Handlungsanweisungen für eine sich ausweitende Krisensituation vor Ort erhalten.
Von den betrieblichen Parteifunktionären wurde allgemein mit Lethargie auf die innerbetrieblichen Kundgebungen und überbetrieblichen Demonstrationen reagiert. Lediglich im EKB fanden sich am Mittag des 17. Juni Parteifunktionäre, Vertreter der Betriebsleitung und der Sicherheitsorgane zusammen, um einen Kampfstab zur Organisation der Zerschlagung der Streikbewegung im Betrieb zu bilden. Nachdem die Lage sich durch die Präsenz der Besatzungsmacht wieder beruhigt hatte, waren die Parteifunktionäre im Laufe des Juni und Juli bemüht, die materiellen Forderungen und Wünsche der Belegschaftsmitglieder zu registrieren und - wenn möglich - einer Realisierung zuzuführen; politischen Anliegen wurden dagegen mit massiven ideologischen Druck bzw. Verfolgung durch die Sicherheitsorgane begegnet.
Als eine wichtige Ursache für das komplette Versagen der Repräsentanten des Staates am 17. Juni 1953 in Bitterfeld wurde von VP-Inspekteur Zaspel die unzureichende Zusammenarbeit zwischen Polizei, Staatsorganen und der SED ausgemacht. Diese Einschätzung war sicher nicht falsch, doch auch innerhalb der Polizei gab es erhebliche Kommunikationsprobleme, die nicht zuletzt durch eine erhebliche Desorientierung auf den gehobenen Führungsebenen verursacht wurde. So wurde beispielsweise im gesamten Bereich der BDVP Halle am 17. Juni um 5.00 Uhr Alarm ausgelöst, aber konkrete Anweisungen an das VPKA Bitterfeld ergingen erst nach 8.00 Uhr, obwohl zu dieser Zeit die BDVP Halle bereits über die Zuspitzung der Lage in den Wolfener Chemiebetrieben unterrichtet gewesen war. Auch während des gesamten Tages waren die Befehle, die von der BDVP Halle an die untergeordneten VPKA gegeben wurden, widersprüchlich: So erging 12.20 Uhr - zu einem Zeitpunkt, da in Bitterfeld der Höhepunkt der Ereignisse bereits erreicht bzw. überschritten war - der Befehl, bei "auftretenden Demonstrationen keine volkspolizeilichen Gegenmassnahmen" zu ergreifen. Diesem Befehl vorwegnehmend hatte der Chef des VPKA Bitterfeld bereits am Vormittag entsprechende Anweisungen gegeben. Um 14.00 Uhr erging dann der Befehl, daß "zur Fernhaltung aller Verbrecher, die in öffentliche Gebäude eindringen wollen, von der Schusswaffe Gebrauch zu machen" sei. Obzwar dieser Befehl zu einer Zeit erlassen worden war, da in Bitterfeld bereits sämtliche öffentliche Gebäude gestürmt und besetzt worden waren, erwuchsen Josef Nossek, dem Leiter des hiesigen VPKA, aus der Nichterfüllung dieses Befehls erhebliche personalpolitische Konsequenzen. In der ihm zuteil werdenden Disziplinierung wurde das Bemühen von höheren Offizieren der Sicherheitsorgane und offenbar auch anderer Staatsfunktionäre deutlich, die Schuld am Versagen der Staatsorgane im Kreis Bitterfeld auf Josef Nossek zu projizieren, um von der eigenen Verantwortung abzulenken.
Die leitenden Funktionäre von Partei und Verwaltung in Bitterfeld räumten am 17. Juni 1953 vor den aufbegehrenden Massen das Feld, um in der Dienststelle des sowjetischen Militärkommandanten die Entwicklung und später die Klärung der Lage durch Truppen der Besatzungsmacht abzuwarten. Eine tiefgründige Ursachenanalyse blieb auch hier nach dem 17. Juni aus, das Hauptaugenmerk der Kreisleitung der SED und der öffentlichen Verwaltungen ruhte auf einer möglichst schnellen Realisierung von Maßnahmen im Rahmen des Neuen Kurses, die ein erneutes Aufflammen des Konflikts mit der Bevölkerung verhindern sollten. Parallel dazu wurde eine umfassende - allerdings ideologisch verbrämte - Analyse des Verlaufes des Aufstandes in die Wege geleitet, in deren Ergebnis man u. a. das individuelle Verhalten von Partei- und Staatsfunktionären bewertete und sozialdemokratische Tendenzen in der Bevölkerung des Kreises Bitterfeld feststellte.
Die durch die Funktionäre auf der unteren Verwaltungsebene verfolgte Grundstrategie war darauf ausgerichtet, nach der Explosion der Aggression in der Bevölkerung deren soziale Ursachen durch materielle Zugeständnisse weitgehend zu mildern.
Die Sicherheitsorgane, deren Aufgabe es eigentlich gewesen wäre, durch operatives Handeln die Ausdehnung der innerbetrieblichen Auseinandersetzungen zu verhindern, verhielten sich am 17. Juni überwiegend defensiv. In den Dienststellen des Betriebsschutzes fürchteten die Polizisten beispielsweise auf Grund des Waffenmangels bei einem Einsatz gegen die Demonstranten die Situation zur Eskalation zu bringen. Diesen Skrupeln, die offenbar auch den verantwortlichen Funktionären von Polizei und MfS nicht fremd waren, war es zu verdanken, daß es bei der außerordentlichen Entwicklung am 17. Juni in Bitterfeld zu keinen Todesopfern kam.
Der Operativstab der BDVP Halle schätze in einem die Ereignisse im Bezirk zusammenfassenden Textbericht ein, daß man innerhalb der Sicherheitsorgane "einen scharfen Kampf gegen offenbar gewordene pazifistische und opportunistische Tendenzen zu führen" habe. Die unmittelbar nach dem 17. Juni einsetzende stärkere Kontrolle der einzelnen Dienststellen erhöhte zusätzlich die ohnehin vorhandene Nervosität der Polizisten, was beispielsweise in einem "übereilten Gebrauch der Schusswaffen während der Nachtzeit zum Ausdruck" kam. Auch in Bitterfeld hatte es ob dieser Erscheinung ein Todesopfer gegeben. Neben dieser Verunsicherung in den Reihen der Polizei wurde von VP-Chefinspekteur Grünstein, dem Chef der DVP, während der sich allmählich entspannenden Situation am 20. Juni ein "Nachlassen der Wachsamkeit" in den Reihen der Polizei verzeichnet und angewiesen, daß von "den Volkspolizei-Angehörigen die notwendige Ruhe gewährleistet wird". Entsprechend diesem Befehl wurden während der sich wiederum zuspitzenden Situation am 15. Juli prophylaktisch an alle Polizeiangehörigen Waffen ausgegeben. Im Bereich des VPKA Bitterfeld wurde beispielsweise ein verstärkter Streifendienst unter Mitführung von Maschinenpistolen durchgeführt. Offenbar hatte sich die Bewaffnung der Polizeidienststellen seit dem 17. Juni erheblich verbessert.
Bei verschiedenen Angehörigen der Polizei hatten die Ereignisse vom 17. Juni Zweifel am richtigen Kurs der Politik von Partei und Regierung aufkommen lassen, denn in unmittelbarer Folge des Aufstandes war unter den Polizisten im Kreis Bitterfeld eine regelrechte freiwillige Entpflichtungswelle zu beobachten. Jedoch dürften auch hier wirtschaftliche Unzulänglichkeiten - wie zu geringer Sold für den Polizeidienst - eine Rolle gespielt haben.
Die Vertreter des Staates reagierten überwiegend passiv auf die Ereignisse im Kreisgebiet am 17. Juni 1953. Sie trugen damit weitgehend zu der Vermeidung einer Eskalation bei. Nach dem Aufstand war man auf dieser Ebene überwiegend bemüht, die materiellen Konfliktursachen zu mildern und parallel das staatliche Reglementierungssystem - Verwaltung, Sicherheitsorgane, betriebliche Führung - zu strafen und im SED-Sinn wirksamer zu gestalten.
5. 3. Die Bitterfelder Lokalpresse
Die Ereignisse des Aufstandes fanden in der Bitterfelder Lokalpresse nur geringen Niederschlag. Am 19. Juni erschien der erste Bericht über den Aufstand mit dem symptomatischen Titel: "Werktätige fielen auf Provokateure herein". Zu Anfang des Artikels wurde festgestellt: "Die Unruhen, zu denen es auch am Mittwoch im Kreis Bitterfeld gekommen war, ist [sic] das Werk von Provokateuren, faschistischen Agenten und ihrer Helfershelfer." Nachdem man die Erklärung der Regierung der DDR vom 17. Juni zitiert hatte, in der mitgeteilt wurde, daß die Ursache für die Arbeitsniederlegung der Berliner Bauarbeiter - die Normenerhöhung - weggefallen sei, drückte der ungenannte Verfasser sein Unverständnis darüber aus, daß sich "trotzdem ... Werktätige von verbrecherischen Elementen verhetzen [ließen] und ... erst hinterher [merkten], was eigentlich gespielt wurde." Anschließend wurde ein parteiloser Arbeiter aus dem EKB zitiert, der ob seines Verhaltens Reue äußerte, die Beschlüsse der Regierung gut hieß und seine Kollegen zur Wiederaufnahme der Arbeit aufforderte. Zum Schluß wurde die Mitteilung über die Auflösung des Streikkomitees des Bahnbetriebswerks Bitterfeld vom 18. Juni abgedruckt.
Nachdem der Leserschaft, die zum größten Teil am Aufstand teilgenommen haben dürfte, so der ideologische Marsch geblasen und ein Muster für die linientreue Interpretation der Ereignisse gegeben wurde, folgten am 22. und 23. Juni zwei Artikel mit Darstellungen abschreckender Details des Bitterfelder Aufstands. "Um unseren Werktätigen zu erläutern, welchem Gesindel sie ... auf den Leim gegangen sind", wurde der Streikaktivist Manfred Rohrbach als Agent des Bundes freiheitlicher Juristen und des amerikanischen Geheimdienstes diffamiert. Hernach führte man zwei Beispiele von Personen an, die während der Besetzung der UHA in Freiheit gelangt waren, wobei man einen Hühnerdieb und einen Sexualverbrecher auswählte. Der Zweck ihrer Befreiung sei gewesen - so wurde den Lesern mitgeteilt - "gemeinsam mit den Agenten des Monopolkapitals die demokratische Ordnung im Kreise Bitterfeld [zu] zerstören und den Faschismus [zu] errichten, den Todfeind der Arbeiterklasse." In diesem Stil wurde am nächsten Tag auch der Elektromechaniker Paul Othma aus dem EKB als Agent des USA-Imperialismus entlarvt. Gepaart waren diese Artikel mit plakativen Protestresolutionen verschiedener Arbeitskollektive gegen die faschistische Provokation, die sich verpflichteten, "jeden faschistischen Provokateur rücksichtslos aus unserem Betrieb [zu] entfernen."
Damit war die Behandlung des Aufstands auf der Bitterfelder Lokalseite der Freiheit weitgehend erledigt. Vier Wochen später - am 21. Juli - wurde ein einziges Mal über einen Prozeß gegen einen Bitterfelder Streikaktivisten, den Angestellten Max Schlittchen aus dem VEB EKM Rohrleitungsbau Bitterfeld, berichtet. Er wurde in erster Instanz zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt.
Einige andere Artikel zwischen dem 25. Juni und dem 15. Juli beschäftigen sich mit der Propagandakampagne, wo unter dem Motto: "Im EKB werden Wünsche und Beschwerden der Kollegen sorgfältig bearbeitet" über mehr oder minder kritische Diskussionen in den Großbetrieben des Kreises und den Ergebnissen dieser Kritik - d. h. den Zugeständnissen von Partei und Werkleitungen - berichtet wurde.
Am 1. Juli erschien auf der dritten Seite der Bezirksausgabe der Freiheit ein zusammenfassender Bericht über die während der Betriebsversammlungen im EKB geäußerten "berechtigte[n] Kritiken und Wünsche der Arbeiter und Angestellten".
Die Reflexion der Ereignisse und ihrer Folgen auf der Bitterfelder Lokalseite der Freiheit blieb wenig analytisch. Man war zunächst vielmehr bemüht, in den überwiegend nicht gezeichneten Artikeln die Leserschaft, die zum großen Teil an dem Aufstand teilgenommen haben dürfte, über ihr falsches Verhalten zu belehren und in propagandistischem Stil über die offizielle Interpretation der Ereignisse zu informieren, wobei dies mit einigen abschreckenden Details und personenbezogenen Diffamierungen garniert wurde. Die Berichte über die Veranstaltungen der Propagandakampagne waren vollständig auf deren Unterstützung ausgerichtet; die Formulierung von gezielt ausgewählter Kritik sollte ein neues Verhältnis zwischen Belegschaften und Funktionären in den Betrieben dokumentieren; die Bekanntmachung von Belegschaftsmitgliedern zugebilligten sozialen oder ökonomischen Vergünstigungen sollten den ernsthaften Willen von Partei und Regierung zur Revidierung ihrer verfehlten Politik beweisen.
Eine vergleichbare Arbeit leisteten die Redaktionen der Betriebszeitungen Fortschritt des EKB und Farbenspiegel der Farbenfabrik Wolfen, welche Organe der jeweiligen BPO waren.
Im EKB beschäftigten sich zwei undatierte Sondernummern des Fortschritts mit dem Aufstand. Zunächst versuchte man den Beweis zu führen, daß der Aufstand nicht "im Interesse unserer Arbeiter und Angestellten" war. "Ohne Zweifel hat es Fehler und Ueberspitzungen gegeben, aber niemals wäre es deshalb unseren Arbeitern und Angestellten eingefallen, sich zu solchen Handlungen hinreißen zu lassen, wie sie stattgefunden haben. (...) Gibt es Beweise, daß unsere Kolleginnen und Kollegen mißbraucht wurden? (...) Natürlich gibt es auch sie. Weshalb hat man am Vortage an einigen Stellen unseres Werkes die Mauern mit solchen Schmierereien bemalt, wie z. B. einen Sarg mit einem Kreuz und den Buchstaben DDR?" Auch wurden Kollegen, "bei denen offensichtlich war, daß sie westlichen Einflüssen unterliegen", Aussprüche in den Mund gelegt, wie: "Na, lange dauert es nicht mehr, dann sieht es hier anders aus."
Vorausgesetzt diese Vorkommnisse waren keine Erfindungen der Funktionäre, was sollten sie beweisen? Die langfristige Vorbereitung des Tages X durch westliche Agenten? Das Hauptaugenmerk dieses Artikels war darauf gerichtet, diejenigen Kollegen, die am Aufstand teilgenommen hatten, dadurch verbal zu isolieren, indem man zwischen "unseren Arbeitern", die so etwas nicht machen würden, und charakterschwachen Menschen, die sich verleiten ließen, differenzierte.
Nachdem die BPO die ideologische Frontlinie zur unzufriedenen Belegschaft gezogen hatte, versuchten Funktionäre der Partei und der Betriebsleitung in den folgenden Wochen den sozialen Frust der Belegschaftsmitglieder durch materielle Zugeständnisse abzubauen und diese zumindest zu einer passiven Haltung gegenüber der Partei und der Regierung zu verpflichten. In der zweiten Sonderausgabe des Fortschritts wurden der Belegschaft die Hauptschuldigen an den Ereignissen im EKB - Paul Othma, Horst Sowada und Günter Steckel - präsentiert; die übrigen Beschäftigten durften sich danach weitgehend als entlastet betrachten.
Diese Beiträge sind in die dem 17. Juni folgenden ideologischen Kampagne der SED einzuordnen. Nachdem zunächst das einzelne Belegschaftsmitglied ideologisch zurecht gewiesen wurde, bot man ihm danach sofort ein Erklärungsmuster für die Ereignisse an, welche den einzelnen Arbeiter und Angestellten in seiner individuellen Schuld entlasteten und ihn für das materielle Entgegenkommen der Regierung empfänglich machten, was ihn parallel zur Loyalität gegenüber dem Staat verpflichten sollte.
Im Farbenspiegel wurde dagegen weniger brutal gegen die streikenden Werktätigen argumentiert, jedoch ohne dabei den ideologischen Grundtenor der einschlägigen SED-Interpretation aus den Augen zu verlieren. In einer Sonderausgabe der Betriebszeitung stellte der erste Sekretär der BPO Günter Gräfe den Aufstand in einen Zusammenhang mit dem Überfall der faschistischen Wehrmacht auf die Sowjetunion am 21. Juni 1941 - ein Ereignis, das sich vier Tage nach dem Aufstand zum zwölften Mal jährte - und forderte von den Beschäftigten des Betriebes: "Stellen wir uns ... geschlossen hinter die Forderung unserer Regierung, uns enger um die Partei der Arbeiterklasse und ihre Gewerkschaften zusammenzuschließen, um gemeinsam und konsequent die Provokateure dieses verhängnisvollen Tages zu entlarven und zur Rechenschaft zu ziehen." Außerdem übte man in dieser Ausgabe etwas Kritik an der Arbeit der FDJ-Grundorganisation der Farbenfabrik Wolfen, und verschiedene Arbeitskollektive distanzierten sich in plakativen Erklärungen von den faschistischen Provokateuren. Bereits am 26. Juni verkündete man in einer zweiten Sonderausgabe zahlreiche Maßnahmen der Betriebsleitung zur Verbesserung der sozialen Situation im Betrieb und der wirtschaftlichen Lage der Belegschaft, die aus den Reihen der Belegschaft angeregt worden waren. Die Propagandakampagne der SED war in der Farbenfabrik Wolfen erst in der selben Woche angelaufen. Diese Art von Verlautbarungen wurden in der Betriebszeitung in den folgenden Wochen noch mehrmals veröffentlicht.
Von der Redaktion des Farbenspiegels wurde eine direkte Konfrontation mit den Belegschaftsmitgliedern, die am Aufstand teilgenommen hatten, weitgehend vermieden. Das Interesse der Funktionäre der BPO lag stärker in einer Deeskalation der innerbetrieblichen Situation durch schnelle Realisierung von Belegschaftsforderungen; begleitet wurden diese Bemühungen von einer seichten politischen Indoktrination im Sinne einer SED-treuen Interpretation der Ereignisse vom 17. Juni.
Die verschiedenen Gliederungen der SED im Kreis Bitterfeld nutzten die von ihnen herausgegebenen Zeitungen als Indoktrinations- und Verlautbarungsinstrumente. In den Beiträgen der verschiedenen Redaktionen waren graduelle Unterschiede in der Art der Realisierung dieser Funktion festzustellen. Den Veröffentlichungen lag aber stets das von der SED-Führung vorgegebene ideologische Interpretationsmuster der Aufstandsereignisse zugrunde.
Kapitel 6 |
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© Olaf Freier (1995) |