Mathematik trifft Geschichte

Ulrich Voigt: Das Jahr im Kopf. Kalender und Mnemotechnik. Beiträge zur Mnemotechnik, Band 2, 1. Auflage, Likanas Verlag, Hamburg 2003, ISBN: 3-935498-01-2

„Der 10. August 1792, an dem die Tuillerien erstürmt wurden und jener bedauernswerte französische König […] seine Krone verlor, war ein Freitag. Wie soll man sich jenen Tag realistisch vorstellen, ohne dieses Detail zu beachten?“[1]

 

Die Bereitschaft, Kalender zu nutzen und zu verstehen, sollte zu den unabdingbaren Tugenden eines Historikers gehören. - Soweit die Plattitüde. In der Realität hingegen bedient sich der gemeine Geisteswissenschaftler der „Hilfswissenschaft“ Zeitrechnung v. A. in Gestalt von Grotefends „Taschenbuch der Zeitrechnung“[2] mit seinen Tafeln und Tabellen, meist ohne Motivation, sich tiefer mit den astronomischen und mathematischen Grundlagen der Zeitbestimmung und Kalendersystematik auseinanderzusetzen.

 

Anders Ulrich Voigt: Der Mnemotechniker entwickelt in seinem Buch „Das Jahr im Kopf“ Methoden für die ausschließlich auf Gedächtnisleistung basierende Auflösung von beliebigen Daten zwischen dem 1. und dem 21. Jahrhundert, gleich nach welchem Kalendermodell sie bestimmt sind.

 

In vier Kapiteln setzt sich der Autor aus jeweils unterschiedlicher Perspektive mit den naturwissenschaftlich-mathematischen Tatsachen (1. Teil) auseinander und entwickelt Modelle in Gestalt von fantastischen resp. fantasievollen Geschichten zur mnemotechnischen Erschließung des jeweiligen Teilproblems (2. Teil).

 

In den Tatsachen-Teilen der einzelnen Kapitel reflektiert Ulrich Voigt unter den Titeln „Wochentage“, „Ostern“, „Pessach“ und „Der Mond“ den Ursprung und die Entwicklung von systematischer Zeiteinteilung seit der Spätantike, den Einfluss astronomischer Zyklen darauf ebenso wie die Bestimmung der Daten wichtiger religiöser Feiertage als Fixpunkte des Lebens- und Zeitrhythmus’ in der christlichen und jüdischen Religion.

 

Der Autor beschreibt anschaulich den konkreten historischen Kontext von Zeitrechnung und Kalendersystematik. Er zeigt Zusammenhänge und Differenzen, mitunter aber auch Gemeinsamkeiten zwischen augenscheinlich unterschiedlichen Systemen wie dem christlichen und dem jüdischen Kalender auf.

 

Zentrales Anliegen des vorliegenden Bandes ist die Herleitung mathematischer Methoden für die unkomplizierte Berechnung beliebiger Daten - bei Bedarf mit zugehörigem Wochentag - nach unterschiedlichen Kalendermodellen, von Oster- und Pessachterminen sowie Mondzyklen. Das besondere Augenmerk des Autors liegt auf der mnemotechnischen Umformung (Vereinfachung) der Kalenderrechnung, dabei hebt er stets auf die Relationen zwischen jüdischen und christlichen Kalenderdaten ab. Sein universeller Ansatz ermöglicht ebenso die Ableitung von Daten des julianischen aus dem gregorianischen Kalender (und umgekehrt) zumindest ab Oktober 1582. Seine Grundgleichung der Wochentagsberechnung ermöglicht zudem die Bestimmung des Wochentages zu einem beliebigen Datum.[3]

 

Voigts Absicht ist es, Kalenderbereiche transparent werden zu lassen und damit überschaubare historische Zeiträume - wie etwa den Juli 1914 - in ihrer Beziehung von Datum zu Wochentag offen zu legen.[4]

 

Der Autor hinterfragt die Ansätze antiker, mittelalterlicher und neuzeitlicher Komputisten und Kalenderrechner. Er kritisiert die im Mittelalter entwickelten Verfahren für die vereinfachte Bestimmung des Ostertermins mittels Hilfskonstrukten wie Goldenen Zahlen, Epakten oder Sonntagsbuchstaben und plädiert vehement für die Kopfberechnung des Ostertermins[5].

 

Orientiert an den Notwendigkeiten der Mnemotechnik entwickelt er mit der Pessachzahl eine Methode zur Bestimmung des Pessach-Datums, die als mnemotechnische Konzeption einer mathematischen Approximation kongenial neben den mnemotechnisch aufgearbeiteten mathematischen Algorithmus von Carl Friedrich Gauss aus dem Jahre 1802 tritt.[6]

 

Ulrich Voigt gelingt es, komplexe mathematische resp. mathematisch-naturwissenschaftliche Zusammenhänge schlüssig zu erläutern sowie die historischen Dimensionen von Kalenderrechnung und die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Kalendermodellen evident werden zu lassen.

 

Empfehlenswert ist die Lektüre dieses Buches nicht nur für jene, die Mnemotechnik an einem praktischen Objekt probieren wollen, sondern auch für die, welche sich auf bisweilen unterhaltsame Weise der Zeitsystematik und ihrer Geschichte nähern wollen, ohne im Vorfeld tiefer gehende Kenntnisse erwerben zu müssen.

 

 

War der 25. Dezember 1, der vermeintliche Geburtstag Jesu, ein Dienstag oder ein Sonntag?[7]


 

[1] Ulrich Voigt: Das Jahr im Kopf, Hamburg, 2003, S. 7

[2] Hermann Grotefend: Taschenbuch der Zeitrechnung, Hannover 1991

[3] Voigt, S. 33

[4] Ebenda, S. 43

[5] Ebenda, S. 170

[6] Ebenda, S. 213f.

[7] Ebenda, S. 143ff.

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Beginn

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© Olaf Freier (2004)